Gespräch mit Jens Wieseke, Pressesprecher des Berliner Fahrgastverbandes IGEB am 9.3.2022
Pressefoto Jens Wieseke © Peter HaagBVL: Sie leben in der Luisenstadt und sind Pressesprecher des Fahrgastverbandes. Seit wann wohnen Sie hier und seit wann sind Sie im Fahrgastverband?
J.W.: Ich wohne seit zwanzig Jahren in der Luisenstadt, arbeite bei der Post, bin 1993 in den Fahrgastverband eingetreten und seit 1996 im Vorstand. Mit der S-Bahn-Krise hat man beschlossen, wir brauchen einen Pressesprecher. Wir machen alles ehrenamtlich. Wir sind querbeet Engagierte für den Verkehr. Ich komme nicht aus dem Bereich ÖPNV, habe mir aber einen gewissen Namen und Reputation erworben. Und ja, das ist mein Hobby.
BVL: Auf Ihrer Homepage stehen sehr ambitionierte Büroöffnungszeiten jeden Tag. Wie machen Sie das denn als Ehrenamtliche?
J.W.: Wir haben ein kleines wirtschaftliches Standbein, einen Verlag und eine Buchhandlung, GVE, Gesellschaft für Verkehr und Eisenbahn. Dadurch können wir uns zwei nicht übermäßig bezahlte Hauptamtliche leisten. Dadurch konnten wir in der Pandemie unser Vereinslokal in Lichtenberg aufhalten für Besucher, weil wir ja eine Buchhandlung waren. Wir haben uns viele Jahre mit Buchverkäufen über Wasser gehalten, Bücher über Berlin und Eisenbahn haben sehr gut gezogen. Aber wir sind wie alle NGOs, immer mit einem halben Bein in der Pleite.
Uns gibt es seit 1980, gegründet im Westteil zur Rettung der S-Bahn und zur Verbesserung des Fernverkehrs zwischen West-Berlin und dem Bundesgebiet, seit 1990 natürlich für die gesamte Stadt.
BVL: Aus der IGEB sind andere Fahrgastverbände hervorgegangen oder wurden davon inspiriert. Was mir bei Fahrgastverband sofort einfiel, war PRO BAHN.
J.W.: PRO BAHN ist in der Bundesrepublik Deutschland 1981 gegründet worden, es gibt dort auch den Bereich Berlin-Brandenburg. Auf Bundesebene arbeiten wir ausgezeichnet zusammen. Es gibt noch den Deutsche Bahnkundenverband, DBV. Da sind wir Mitglied. Ein Vorstandsmitglied von uns ist auch beim DBV und sehr gut in den Themen Fernverkehr drin.
Wir kümmern uns um alles, was das Thema Verkehr betrifft, angefangen bei Bushaltestellen-Information, Straßenbahnhaltestellen-Information. Vorrangschaltung für Busse, Straßenbahn, Netzplanung Bus, Straßenbahn, U-Bahn. Und bei der Eisenbahn sind wir in sehr vielen Themen drin. Aber auch im Fernverkehr, da haben wir ein sehr gut vernetztes Mitglied.
BVL: Der Fahrgastverband ist also auf Berlin und Umland beschränkt, aber da für alles, was passiert beim ÖPNV?
J.W.: Ja. Als persönliches Spezialgebiet kenne ich mich relativ gut in Cottbus aus. Was nicht unspannend ist, da der Kohleausstieg uns direkt betrifft, auch wenn er vielleicht drei Jahre später kommt. Was hat das mit Berlin zu tun? Das Kohleausstiegsgebiet beginnt rein verkehrstechnisch in Berlin-Grünau bei der Eisenbahninfrastruktur. Was man da alles beachten muss, wo z. B. noch Weichen und Gleise gelegt werden müssen. Der Ausbau der Schiene, das ist das Problem. Da gibt es jahrzehntealte Defizite, die aufgeholt werden müssen.
BVL: Wie und wann greift der Fahrgastverband ein Problem auf? Sie haben einen Kummerkasten auf der Homepage, reicht es, wenn ich als Einzelne mit irgendwas komme oder müssen mehrere kommen? Und wer entscheidet, was weiterverfolgt wird?
Alles ist besser als die U8 - Sicherheit auf U-Bahnhöfen
J.W.: Es muss relevant sein. Also wenn der Bus einmal zu spät gekommen ist, das ist eher Pech. Es sind Themen, von denen sich Probleme für die ganze Stadt ableiten lassen.
Was uns in der Luisenstadt bedrängt ist das Thema Sicherheit. Es gibt in unserem Verein den einen Satz, alles ist besser als die U8. Heute habe ich gehört, dass es wohl bald Besserung gibt, möglicherweise jetzt Personal auf Schwerpunkt-Bahnhöfe kommt. Ich hoffe auch, dass unser Lieblingsbahnhof Heinrich-Heine-Straße mit ständigem Personal bestückt wird.
Foto: © Beate LeopoldAlso das ist so ein Thema, wo wir sagen, wir dürfen die Leute nicht allein lassen. Wenn ich zum Alexanderplatz will, dann gehe ich lieber zum U-Bahnhof Märkisches Museum, weil ich mir die U8 nicht antun will. Dabei ist es jetzt zwar wenig tröstlich, aber der schlimmste Bahnhof von allen ist Schönleinstraße. Was mir persönlich Sorge macht, die Bahnsteigplatte ist hohl und da sollen wohl Obdachlose leben. Das habe ich aber bis jetzt nur gehört. Also man muss sich nur ins Gleisbett fallen lassen und drunter rutschen.
Wenn sie jemals aufs Gleis fallen, dann versuchen sie nicht hochzuklettern, sondern da ist extra ein Leerraum, da können Sie richtig rein. Das sieht man zwar nicht, aber dieser Raum ist dafür da, dass man an die Fahrzeuge rankommt.
Das ist ein Thema, Sicherheit im ÖPNV: Und ein weiteres Thema sind beispielsweise Sperren auf den U-Bahnhöfen, weil viele ja meinen, damit hätten wir weniger Schwarzfahrer und weniger Dealer oder Obdachlose auf den Bahnhöfen und damit seien alle Probleme gelöst. Aber das löst natürlich kein einziges der Probleme. Erstens sind die Schwarzfahrer-Zahlen in Paris, wo es Sperren gibt, genauso groß. Zweitens reden wir über eine Investition von positiv gerechnet einer viertel Milliarde Euro, wenn nicht deutlich mehr.
BVL: Ich habe mal jemandem von der BVG gefragt, warum nachts die Bahnhöfe nicht richtig zugemacht werden. Mir wurde gesagt, einmal ist es zu teuer und man würde auch gar nichts erreichen, weil viele, die sich dort unberechtigterweise bewegen und Verschmutzungen hervorrufen, trotzdem reinkommen würden.
J.W.: Das Berliner U-Bahn-Netz ist darauf auch nicht ausgelegt. Heinrich-Heine-Straße mag ja noch gehen, aber jetzt gucken Sie sich mal Hausvogteiplatz an, wo wollen sie da Sperren einbauen? Das funktioniert nicht.
Unserer Meinung nach gehört Personal auf die Bahnhöfe, das ständig dort Kontrolle macht. Wenn es nicht für alle Bahnhöfe reicht, dann aber für die Schwerpunkt-Bahnhöfe. Dazu gehören für mich fast alle Bahnhöfe der U8. Im Norden, Reinickendorf, Lindauer Allee sind jetzt nicht so die Problembahnhöfe Aber Heinrich-Heine-Straße, Jannowitzbrücke, Weinmeisterstraße, Moritzplatz, Schönleinstraße .... Da hoffen wir, dass da jetzt was passiert. Das ist zum Beispiel so ein Thema, worum wir uns kümmern.
Netzplanungen, U-Bahn-Ausbau und Notwendigkeit langfristiger Verkehrsplanung
Wir sind auch in den gesamten Netzplanungen mit drin. Nehmen wir noch ein Beispiel hier aus unserem Kiez. Der Bus 147, wieso fährt der nicht am Sonntag? Unser Ziel ist, dass in der Innenstadt eine Buslinie von morgens 5:00 bis 24:00 Uhr fahren muss. Und sie muss zu wichtigen Zeiten alle zehn Minuten fahren, ansonsten auch alle zwanzig.
Nächstes Beispiel: Sie wollen am Wochenende in die Charité in Mitte. Sie kommen aber nicht mit dem Bus in die Notaufnahme der Charité, da fährt sonntags kein Bus hin. Es gab früher einen Nachtbus, der dorthin gefahren ist, seitdem die U5 verlängert wurde, wurde der am Wochenende eingestellt. Das Fahrrad ist nicht für alle eine Alternative, es hat seine natürliche Grenze im Alltag für 70 bis 80 Prozent der Menschen bei einem Weg von sieben bis zehn Kilometern. Und dann bleibt nur der ÖPNV, und der muss für alle da sein.
Wir sind auch in Themen drin wie U-Bahn-Ausbau. Betrifft uns hier in der Gegend nicht, hier ist die Sanierung Thema. Dieses Jahr müssten alle Berliner U-Bahnhöfe barrierefrei sein, schreibt ein europäisches Gesetz vor. Aber häufig ist wenig dafür da. Da gucken wir dann, was machbar ist. Ein anderes großes Thema, in dass wir stark involviert sind, ist der Ausbau der Schiene in Berlin und Brandenburg. Dafür gibt es ein Rahmenprojekt, I2030, wo es um den Ausbau der S-Bahn und des Regionalverkehrs geht.
BVL: Sie hatten die U8 schon angesprochen, konkret bei uns Heinrich-Heine-Platz, Moritzplatz. Da kümmern sie sich drum. Wie sieht das praktisch aus?
J.W.: Wir haben eine eigenen Vereinszeitschrift, Signal, die finden Sie auf unserer Homepage, da werden diese Sachen thematisiert. Und wir sprechen direkt mit den Leuten in den Verwaltungen und bei der BVG. Zum Beispiel hatten wir vor eineinhalb Monaten einen Termin mit der Betriebsleiterin der Berliner U-Bahn, da waren solche Themen wie Sicherheit und Ausbau, Ausmusterung und Neuanschaffung von Zügen auch dabei. Es müssen viele Züge verschrottet werden, es sind immer noch Fahrzeuge aus den siebziger Jahren im Einsatz, und wir kriegen jetzt ganz viele neue Züge.
Wir haben in der Summe ein ausgezeichnetes Verhältnis zur S-Bahn. Zum Beispiel den Notfahrplan für den S-Bahn-Streik wusste ich eine halbe Stunde vorher und habe ich ihn gleich auf Twitter veröffentlicht. Also notfalls kann ich oder jemand aus dem Verein bei ganz vielen Leuten anrufen. Die IGEB ist eine Hausnummer.
Wir machen auch ganz klassisch Presseerklärungen, wenn wir rausbekommen, dass jemand richtig Bockmist gebaut hat oder wir auf etwas aufmerksam machen wollen. Das war das letzte Mal der Fall mit der Marggraffbrücke. Wir hatten aufgedeckt, dass da die dort geplante Straßenbahn vergessen wurde. Die neue Verkehrs-Senatorin hat ausgezeichnet reagiert und gesagt, wir sehen, was wir machen können. Die Brücke fällt in die Verantwortung der Wasserstraßen-Verwaltung, sie hat mit denen verhandelt, und die können wohl jetzt nachsteuern.
Und jetzt kommen wir von dieser Brücke wieder zum Allgemeinen, vom Einzelfall auf das Große. Wir haben gesagt, wir müssen endlich einen Plan haben, wo wir im Jahre 2050 die Straßenbahn haben wollen. Eine Brücke hält 80 bis 100 Jahre, wenn jetzt viele Brücken ausgetauscht werden, dann muss der Planer in der Senatsverkehrsverwaltung den Plan vornehmen nehmen und wissen, ist hier eine Straßenbahntrasse in den nächsten 40 Jahren geplant? Bei den Lebenszeiten, die eine Brücke hat, muss man an Planungen für das Jahr 2060 denken. Verkehrsplanung erfolgt in solchen Zeiträumen. Aber selbst wenn es einen Plan gäbe, der sagt, es soll einmal eine Straßenbahn vom Potsdamer Platz über Hermannplatz nach Schöneweide gehen, ist damit noch nicht gesagt, wo sie konkret fahren soll. Das soll dann der nächste Plan machen, Zielnetz Straßenbahn.
BVL: Sie haben dann als Verein im Prinzip überall Augen und Ohren offen und reagieren auch auf Anregungen, die von anderen Leuten kommen?
J.W.: Ja. Aber im Kern ist es so, dass wir doch wesentlich tiefer in ganz vielen Prozessen sind, das haben wir uns in 30, 40 Jahren selbst erarbeitet. Es gibt auch Leute wie der jetzige Bauplaner bei der BVG, der war einmal IGEB-Mitglied. Wir sind in vielen Themen drin.
BVL: Sie sagten, dass auf den Fahrgastverband gehört wird. Das hören wir gerne, denn es ist ja nicht zwingend. Bürgerbeteiligung ist nur bei bestimmten Verfahren gefragt.
J.W.: Wir haben keinerlei reale Macht, aber wir haben Einfluss. Das gefällt manchmal manchem Bürger nicht. Ein klassisches Thema ist U-Bahn-Planung, wenn wir sagen, das ist weder zu leisten noch zu finanzieren, noch ist das jetzt zeitlich ein Parameter, um damit Probleme zu lösen, weil das viel zu lange dauert.
Wichtig: Ausbau des ÖPNV
Zum Beispiel Spandau. Es gibt dort drei Siedlungsschwerpunkte, oben die Wasserstadt, das Falkenhagener Feld und im Süden die Wilhelmsstadt. Und viele wollen vom Bahnhof Spandau dorthin fahren. Das ist wie eine Stadt mit 350.000 Einwohnern, und die hat faktisch nur den Bus. Aber man kann nicht drei U-Bahn-Strecken bauen. Da muss jetzt was passieren, das kann nach Maßgabe der Dinge nur die Straßenbahn sein. Auch wenn Politiker dort eine U-Bahn wollen. Das wird vor 2035 nichts werden. Und wenn sie eine ehrliche Wirtschaftlichkeitsberechnung machen, kommt da nie ein Wert raus, der eine U-Bahn wirtschaftlich rechtfertigt.
BVL: Und die zum BER?
J.W.: Wozu brauche ich da eine U-Bahn? Sie kommen doch schon zum BER. Ich komme gut mit der S-Bahn hin oder mit der Regionalbahn. Ich habe doch auch ein bisschen Gepäck. Möchte ich das in der U7 mitnehmen? In der S-Bahn ist einfach mehr Platz. Da kriege ich auch einen Sitzplatz und würde da in aller Gemütsruhe rausfahren. Oder mit der U8 oder U2 zum Alexanderplatz fahren und dann den Flughafenexpress nehmen.
BVL: Ja, es ist kein Vergleich zu Tegel, da ist man nur mit Bussen hingekommen.
J.W.: Bei der U7 geht es um die Feinerschließung von Schönefeld. Berlin kann das möglicherweise noch bezahlen, es geht um zwei Stationen. Aber wie Brandenburg das bezahlen soll ... wir reden über eine Milliarde Euro. Es gibt zwar Eisenbahnmittel, aber eine U-Bahn ist im juristischen Sinne eine unterirdische Straßenbahn. Und dafür sind die Kommunen zuständig. U-Bahn ist mit Abstand das teuerste Verkehrsmittel, auch vom Betrieb her.
BVL: Sie gehen da sehr pragmatisch dran, der Fahrgastverband macht also auch eine Kosten-Nutzen-Abwägung und stellt nicht Forderungen auf, die vielleicht gerade populär sind. Das ist wahrscheinlich auch das Geheimnis, weshalb sie mit gehört werden.
J.W.: Ja, das ist unser Geheimnis, denn wir müssen nicht gewählt werden. Ich weiß jetzt nicht, den wievielten Senator oder Senatorin ich erlebt habe. Die Presseleute kommen immer noch zu mir. Zum Beispiel Marggraffbrücke, plötzlich ruft Uli Zelle von der Abendschau des rbb an: wir treffen uns und er kann darüber berichten. Und solche Vernetzungen sind wichtig.
Es ist leider ein bisschen schwierig, junge Leute dafür zu begeistern. Das Thema Fahrrad ist schön und gut, aber wer kann alles Fahrradfahren und wie lange kann man fahren.
Ich bin bei der Post und sollte Berechnungen machen, ob bei neuen Dienstzeiten in der Nachtschicht die Kollegen ihren Dienst antreten können mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Das hat bei fast allen Kollegen gepasst laut Tarifvertrag, aber was ich da an Zeiten ausgerechnet habe, ist die Hölle. Ich möchte mich nicht morgens um eins im Märkischen Viertel in einen Nachtbus quälen und dann in der Innenstadt noch in einen anderen Nachtbus umsteigen. Rein juristisch ist das in Ordnung, aber ich kann mir das nicht als Quell steter Freude vorstellen, vom Märkischen Viertel dahin zukommen. Das ist schon in der Innenstadt nachts schwierig. Und deshalb ist der Ausbau des ÖPNV so enorm wichtig.
Niedrige Zugangsbedingungen und übersichtliche Tarifstruktur
BVL: In der neuen Regierungserklärung zum Thema Mobilität taucht eine Task-Force ÖPNV-Beschleunigung und eine AG-Tarife auf. Sind Sie da in irgendeiner Form dran beteiligt?
J.W.: In der AG-Tarife ist unser Chef dabei. Es gab noch nie eine Koalitionsvereinbarung, wo so viel IGEB drin war. Der Satz zum Waisentunnel, da ist eine wortwörtliche Formulierung von mir übernommen worden. Es heißt sinngemäß, es ist eine betriebsfeste Verbindung zwischen der U5 und dem übrigen Großprofil-Netz zu schaffen. Und solche Dinge könnten wir durchgehen, da würden wir viele Stellen finden. Eine Frage ist zum Beispiel das elektronische Zahlungssystem, was bei dem relativ hohen Altersdurchschnitt in der Luisenstadt im Heinrich-Heine-Viertel durchaus ein Thema ist.
BVL: Ich habe gelesen, es gibt demnächst eine Karte. Ich dachte, na prima, dann steckst du die im Bus irgendwo rein und dann wird was abgebucht. Aber nein. Es ist nur eine Bezahlkarte und ich kaufe damit beim Busfahrer ein Papierticket.
J.W.: Das Problem sehe ich ein bisschen tiefer. Wir wissen, dass viele Leute mit dem Cent rechnen und sehr genau überlegen müssen, was gebe ich wofür aus. Die teilen sich die Fahrt mit dem Bus zum Arzt oder zum Friedhof ein. Wir haben gesagt, ihr könnt ja alle möglichen Systeme und Karten erfinden, aber wir möchten weiter, dass man Tickets mit Bargeld bezahlen kann im Bus oder in der U-Bahn. Die Zugangsbedingungen müssen so gering wie möglich sein. Dass in Bussen Barzahlung nach Ende der Pandemie wieder einzuführen ist, ist von uns. Wir haben nichts gegen die Ideen der BVG, wollen aber Bargeld als Option haben.
BVL: Eine Normalfahrkarte hat eine Gültigkeit von 120 Minuten. Das heißt, du kannst in eine Richtung die Fahrt auch unterbrechen und verschiedene Sachen machen.
J.W.: Eigentlich nicht. Ich weiß was Sie meinen. Sie gehen kurz zu Kaufhof am Alexanderplatz und fahren dann weiter. Das ist eigentlich verboten. Ich muss zielgerichtet die Fahrt machen. Das ist schwer zu erklären, ist das jetzt noch im Tarif oder nicht?
Da sind wir beim nächsten Thema, wie verständlich ist ein Tarif. Also ich kann jetzt nicht sagen, ich fahr zum Alex, kaufe da schnell was ein und fahr dann zu meiner Freundin. Ich vermute, der Kontrolleur wird nichts sagen, aber eigentlich ist das nicht gestattet, weil sie die Fahrt nicht zielgerichtet machen. Als Beispiel, sie steigen um 8:00 Uhr Heinrich-Heine-Straße ein und steigen erst 9:55 Uhr in Wittenau aus. Da würde ein Kontrolleur sagen, das kann nicht stimmen. Früher waren die zwei Stunden ein Netzticket, das ist es jetzt aber nicht mehr.
BVL: Man konnte zwei Stunden fahren wohin man wollte.
J.W.: Das ist abgeschafft worden. Und damit auch, dass ich eine längere Pause mache. Da ist ein großer Graubereich. Und das meine ich, Tarife müssen einfach sehr sein. Ein anderes Beispiel, vor rund 15 Jahren war es egal, ob ich eine Fahrkarte für ein Kind oder für ein Fahrrad gekauft habe. Aus irgendeinem Grund wurde eine Tarifstufe für Fahrräder eingeführt. Und schon gab es acht Tarifstufen mehr und ich brauche eine Seite mehr in der Papierbroschüre. Muss das sein? Solche Dinge gehören für uns auch dazu, dass Tarife einfacher sind.
Foto: Übersicht Tickets. © Beate Leopold
BVL: Ich bin in etlichen Großstädten manches Mal verzweifelt am jeweiligen Tarifsystem.
J.W.: Vor Jahren wurde mal untersucht, wo ist das einfachste System, da kam Berlin sehr gut bei weg. Das ist zum Beispiel bundesweit das Thema, was ist in Deutschland ein Kind? Das macht jeder Verbund anders. Wieso kann man es nicht einmal festlegen, wann bin ich ein Kind und wann keines. Und das ist dann überall gleich. Das würde schon viel helfen.
Verkehrsprobleme durch stadtweite gute Verkehrsanbindung lösen
BVL: Sie haben vorhin schon den Bus 147 angesprochen. Wir haben hier in der Luisenstadt auch die Diskussion um Kiezblock-Initiativen und die Verkehrsberuhigung der Oranienstraße. Da ist dann auch der Bus M29 davon betroffen. Wie sehen sie das, die sehr berechtigten Bemühungen um Verkehrsberuhigung mit den Auswirkungen auf den Busverkehr?
J.W.: Ich habe vom M29 in der Oranienstraße gehört, dass der Bus weiter durchfahren soll. Die Kiezblocks halte ich für berechtigt. Aber die Verkehrsprobleme in der Berliner Innenstadt löse ich in Hellersdorf und im Falkenhagener Feld. Es muss endlich dafür gesorgt werden, dass die Leute draußen zu 95 Prozent sofort in die Öffentlichen einsteigen, um hier den Verkehr zu verringern. Nur hier den Verkehr zu behindern wird allein nicht funktionieren.
Foto Bus M29. © Beate Leopold
Der Nahverkehr muss so attraktiv sein, dass die Leute sagen: „Boah, das Auto tue ich mir nicht an.“ Ich glaube, dass Frau Jarasch, die neue Verkehrs-Senatorin, das erkannt hat, und dass die Fokussierung auf eine fahrradgerechte Innenstadt alleine nichts bringt. Verkehrspolitik ist nicht nur für den Fahrrad-Nerd in Friedrichshain-Kreuzberg, sondern auch für die Discounterverkäuferin im Falkenhagener Feld hinter Spandau. Da fährt keine U-Bahn hin, keine Straßenbahn, keine S-Bahn, nichts. Ein weiteres Beispiel ist das Kosmosviertel, ein Plattenbaugebiet aus DDR-Zeiten mit einer miserablen Verkehrsanbindung. Da muss jetzt endlich ein Angebot hin und das heißt, es muss alle zehn Minuten ein stabiles Verkehrsmittel da sein, das einen mindestens zum nächsten Schienenverkehrsmittel, also S- oder U-Bahn bringt. Kann auch der Regionalverkehr sein.
BVL: Vor unserer der Haustür ist eine Entlastungsstraße, Hauptstraße vierter Ordnung, da fährt der Bus 147. Die Kiezblock-initiative möchte über dem Café Engelbecken praktisch zumachen mit einem Poller, der hoch- und runterfährt. Der Busfahrer müsste dann eine Fernbedienung haben, Müllfahrer, Krankenwagenfahrer Lieferverkehr auch. Halten sie das für gleichzeitig wichtig?
J.W.: Ich halte die Kiezblock-Idee für nicht schlecht, aber mir fehlt etwas die gesamtstädtische Vernetzung, die Erreichbarkeit für die Außenbezirke muss gleichzeitig drastisch verbessert werden. Ich würde das wesentlich stärker verknüpfen. Es wird noch eine ganze Reihe von Jahren Autoverkehr geben. Da muss man die Gleichzeitigkeit hinbekommen.
BVL: Und hier? Ein Poller kostet glaube ich so um die 40.000 Euro.
J.W.: Wissen sie, mit welchen Summen im Verkehr gerechnet wird? Für einen U-Bahnhof kostet ein Fahrstuhl eine Million, und wenn wir Pech haben zwei Millionen. Also da ist ein Poller-Programm jetzt nicht das Problem. Wenn man Verkehrspolitik macht, sind 50 Millionen eine preiswerte Sache. An einem Poller wird das nicht scheitern, das ist nicht die Frage.
Mir fehlt ein Gesamtkonzept, wo der Verkehr dann fließen soll. Wo muss ich welche Schleusen für wen schaffen? Nur zu sagen, ich mache jetzt hier überall dicht, wird nicht reichen. Da fehlt mir das Fachwissen zu. Aber es muss gleichzeitig angefangen werden, die Leute dort und dort hinzubringen.
BVL: Was müsste denn aus ihrer Sicht am öffentlichen Nahverkehr verändert, verbessert werden, damit mehr Menschen das Auto stehen lassen? Sie haben gerade einen wichtigen Punkt gesagt, eine gute Verkehrsanbindung nicht nur in der City, sondern stadtweit.
J.W.: Es gibt einen einfachen Qualitätsparameter: Jeder in Berlin soll innerhalb von vierhundert Metern alle zehn Minuten eine Verkehrsanbindung haben mit dem ÖPNV.
BVL: Das ist eine griffige Formel.
Ausschnitt ÖPNV Umgebung. © Beate Leopold
J.W.: Die steht auch im Nahverkehrsplan und die möchte bitte durchgesetzt werden. Hinter Schmöckwitz in Rauchfangswerder wird es nicht funktionieren. Da kommt man in Wirtschaftlichkeitsberechnungen, wo das nicht klappt. Aber ab solchen Ortsteilen wie Schmöckwitz, wieso fährt die Straßenbahn in der Hauptverkehrszeit nicht alle zehn Minuten? Wieso sorgt man nicht dafür, dass die Leute, die in Grenzbereichen wohnen, eben nicht in die City mit dem Auto fahren müssen. Da erwarte ich ein bisschen mehr von der Politik als zu sagen, ich führe jetzt ganz viele Lastenfahrräder ein. Also ich werde nicht eine Waschmaschine mit dem Lastenfahrrad holen, das überlasse ich doch dem Lieferdienst des Unternehmens.
Wenn ich jetzt die Verkehrswende will, dann muss ich jetzt ganz schnell dafür sorgen, dass hunderttausende Berliner ihr Auto stehen lassen können. Dafür braucht es Angebotsausweitung, Qualität, Sicherheit. Sie hatten die Geburtstagsparty bei Ihrer Freundin und wollen dann am Wochenende morgens um 2:00 Uhr zur Heinrich-Heine-Straße, und das müssen sie ohne Bedenken können. Das wäre mein Ziel. Es ist ja gar nicht die Frage, ob was passiert, das ist eine Frage der subjektiven Empfindung.
BVL: Nicht nur ältere Leute, auch meine Enkeltochter hat mit dreizehn gesagt, Oma, ich traue mich nicht mehr in die U-Bahn. Holst du mich ab?
J.W.: Und davon müssen wir weg. Die U-Bahn muss attraktiv sein, regelmäßig und häufig kommen. Dafür sind die Weichen bei der reinen Fahrzeugbeschaffung gestellt. Da sind wir wieder bei unserem Hobby. Also die BVG-Chefin erklärt, da müssen wir Abstellanlagen bauen und hier müssen wir bei den Werkstätten was machen. Ich kann das auch nachvollziehen. Ich kann ja nicht nur mehr U-Bahn-Wagen haben, die müssen muss auch irgendwo nachts stehen. Und ich muss die auch mal reparieren, das gilt es auch zu bedenken.
Vorrang für Busse
Was mir zum Beispiel in der letzten Legislaturperiode gefehlt hat, dass der Bus erst einmal absoluten Vorrang bekommt. Das hätte man längst regeln können. Ich war zum Beispiel in der Friedrichstraße, wollte den 147er nehmen. Was denken sie, wie lange ich vor dem Humboldt Forum in der Breiten Straße gestanden habe, bis der Bus endlich über die Fischerinsel rollte, weil ein riesiger Rückstau war. Wieso können nicht Parkplätze aufgehoben werden an der Stelle und eine Busspur geschaffen werden? Da ist kein Wohngebiet, ob da jetzt zehn Parkplätze mehr oder weniger sind, wird das Parkplatzproblem als solches nicht regeln. Da könnte ich mir eher ein Parkhaus auf der Fischerinsel vorstellen.
BVL: Kiez-Parkhäuser wären generell eine gute Idee. Auch in unserem Viertel zum Beispiel.
J.W.: Aber die zu finanzieren ist das nächste Problem. Es gibt nicht die eine Lösung, aber es muss attraktiv sein, den ÖPNV zu nutzen, weil er pünktlich ist, weil er einen akzeptablen Preis hat. Manches kriegt man über soziale Komponenten hin, Ermäßigungen wie zum Beispiel das Berlin Ticket S für Hartz4-Empfänger. Man kann vieles regeln. Bei den Leuten muss der Drang entstehen, ich nutze lieber den ÖPNV. Das haben jetzt einige in der Stadt erkannt, dass da ein bisschen mehr passieren muss. Und deshalb bin ich gedämpft optimistisch.
BVL: Sie haben vorhin das Jahr 2030 angesprochen. Der letztes Jahr verabschiedete Stadtentwicklungsplan Mobilität und Verkehr 2030 sieht als Ziel für 2030 einen Anteil des Öffentlichen von 29 Prozent am gesamten Verkehr vor. Halten sie das für realistisch?
J.W.: Eigentlich bräuchten wir viel mehr. Wenn man sich mit Fachleuten unterhält, geht dieser gewaltige Aufwuchs nur, indem ich den Bus massiv ausweite. Ein anderes Verkehrsmittel habe ich jetzt nicht auf die Schnelle zur Verfügung. Wie lange das dauert, die Straßenbahn zu bauen, das ist schon mehr als ärgerlich. Also in unserem Kiez sind wir davon nur am Rande betroffen. Irgendwann soll auch einmal eine Straßenbahn vom Spittelmarkt zum Halleschen Tor führen, am Jüdischen Museum vorbei. So sagt es dieser Zielkorridor.
BVL: Da wurde ja der 248er hingelegt, um das Jüdische Museum besser zu erschließen. Der fuhr einmal durch die Alte Jakobstraße. Da waren viele ältere Leutchen dran gewöhnt. Aber jetzt fährt er nicht mehr durch unser Viertel. Wir haben sogar an die BVG-Chefin geschrieben.
J.W.: So richtig die Erschließung des Jüdischen Museums ist, aber das darf nicht zu Lasten der Einwohnerschaft gehen. Aber die Chefin der BVG ist da nicht maßgebend. Sie müssen ihre Abgeordneten und die Senatsverwaltung dazu bewegen, was zu tun. Die BVG ist nur ausführendes Organ. Wenn die Politik sagt, das und das ist zu machen, dann muss die BVG das auch tun. Wenn das Land sagt, ich hätte gerne in der Altem Jakobstraße alle zwanzig Minuten einen Kiez-Bus und der soll da und da enden, dann ist die BVG damit beauftragt, die richtigen Haltestellen zu finden das richtige einzubinden.
Das Problem ist ja, dass auch vierhundert Meter für viele ältere Leute eine Menge Weg sind. Deshalb ist diese vierhundert Metermarke natürlich nur ein Maßstab.
BVL: Es gibt ja nicht nur die ältere Generation, die auf kurze Wege und Barrierefreiheit angewiesen ist. Es gibt auch Menschen im Rollstuhl und nicht zu vergessen Kinderwägen. Wenn ich das manchmal im Bus sehe, ein Kinderwagen ist drin, ein zweiter quetscht sich noch rein. Und der Dritte muss draußen bleiben.
J.W.: Ja, das sind alles Parameter, die ich natürlich bei einer Stadt mitdenken muss. Nichts desto trotz bin ich froh, dass ich hier in der Luisenstadt wohne.
Sanierungsfall Berliner U-Bahn
BVL: Wissen sie, was mit dem geplanten Aufzug im U-Bahnhof Heinrich-Heine-Straße, U8, passiert ist? Das stand schon fest, dann und dann kommt der, und dann wurde es noch einmal um zwei oder drei Jahre verschoben. Woran lag das? Es kann doch nicht sein, dass Planung und Umsetzung eines Aufzugs sechs Jahre dauern.
J.W.: Leider doch, da ist vieles zu beachten. Der Aufzug sollte vom U-Bahnhof direkt auf die Straße führen. Da muss auch der Straßenraum herum umgebaut werden. Das soll aber wohl bald passieren.
Mich stört, dass die Ausgänge nicht verlegt wurden, zumindest der eine, der durch den Sage-Club führt. Diesen Tunnel hätte man schließen können. Man hat aber vergessen, ein Wegerecht in das neue Hochhaus zu machen, um dort einen neuen Ausgang zu bauen. Da wurde nicht komplex gedacht. Man muss auch ressortübergreifend denken. Die Behörde, die die Privatisierung des Grundstücks auf dem Tisch hatte, hat das nicht bedacht und nicht mit der BVG geklärt. Dann passiert sowas.
Ausgang U8 Köpenicker Straße. © Beate Leopold
BVL: Ist es ein Problem ausufernder Bürokratie oder der verschiedenen Ebenen Bezirk und Senat?
J.W.: Es ist teilweise die Bürokratie, aber auch, dass die Sicherheitsbestimmungen heute andere sind als noch vor 20, 30, 40 Jahren. Bei den gegenseitigen Abstimmungen sind tausend Dinge zu beachten. Aber natürlich müsste der gesamte U-Bahnhof Heinrich-Heine-Straße generalüberholt werden. Der ist 1990 aufgemacht worden und da muss einmal grundsaniert werden. Barrierearm, das heißt Aufzug.
Aber die Berliner U-Bahn ist in ihrer Gänze ein Sanierungsfall. Also jedes Mal, wenn die BVG irgendeine Wand aufmacht, denke ich, um Gottes Willen. Zum Beispiel war am Alexanderplatz keiner darauf vorbereitet, dass die historischen Stahlpfeiler unter der Bahnhofsplatte angerostet sind. Da mussten neue provisorische eingezogen worden, bevor der U-Bahnhof saniert werden kann. Und das kostet eben auch mal wieder ein paar Millionen. Deshalb sind fünfzigtausend für einen Poller eher Peanuts.
BVL: Weil sie gerade sagen, ein Fall für Grundsanierung. Also ich kenne das teilweise aus spanischen U-Bahnen, dass es da auch Toiletten in den U-Bahnhöfen gibt.
J.W.: Aber viele unserer U-Bahnhöfe sind ja recht alt, da muss erst einmal das Wasser hin und wieder zurückkommen. Die Problematik ist doch immer, es an die Infrastruktur anzuschließen. Also Bewässerung und Entwässerung war alles nicht eingeplant, das kann man in den Bestandsbauten nicht mehr nachträglich machen. Der U-Bahnhof Spittelmarkt ist 1908 eröffnet worden, da war meine Oma fünf. Das ist eher eine Aufgabe an die gesamte Stadt, endlich für genug Toiletten zu sorgen.
BVL: Wir wollen ja erstmal nur die Öffis besser haben. Ja, wir sind so weit durch. Vielen Dank für ihre Zeit und die vielen Information zum ÖPNV und zur Verkehrsplanung.
Das Gespräch führten Beate Leopold und Petra Falkenberg